20. Juni 2019: Auf dem Mittellandkanal von Bortfeld nach Wolfsburg – 33km – 4 Stunden – 1 Schleuse
Aufbruch aus Bortfeld
Warum eigentlich packt das Schicksal oft so viel Mist in einen einzigen Tag? Vielleicht ist es nur Einbildung, und die schlechte Tagesform verursacht erst das Ungemach.
Vor der Abfahrt aus Bortfeld gleich mal große Freude am Morgen: weshalb ist keine Luft mehr im Schlauchboot? Eine Kammer unseres Beibootes hat sich verabschiedet und ist geplatzt an einer Schweißnaht auf 20 Zentimeter Länge. Eine Erklärung drängt sich auf. Ich hatte das Boot in Rotterdam bei 15 Grad prall aufgepumpt. Bei über 30 Grad wie aktuell sieht der Luftdruck im Boot anders aus. Das hat die Schweißnaht nicht mehr mitgemacht. Damit scheidet Ankern erst mal aus, da wir keinen Pipikaka-Express an Land für die Hunde bewerkstelligen können. Ich bestelle eine große Dose Schlauchbootkleber zu Nico nach Berlin und hoffe, dass sie uns bald besucht.

Die Wasserpumpe pumpt jede Minute einen Stoß – obwohl alle Hähne zu sind. Was ist da wieder los? Eine Schlauchschelle hat ein Loch in den ohnehin nicht passenden Schlauch gebohrt. Ich stelle die Pumpe ab, damit uns nicht die Bilge voll läuft. Seit wir die AWOL haben, hängt ein falscher Schlauch von etwa 60 Zentimetern Länge, welcher nicht auf die drei bar Druck der Pumpe ausgelegt ist, zwischen Pumpe und Frischwasserleitungen. Zudem sind die Anschlussstücke nicht auf den Innendurchmesser dieses Schlauchs ausgelegt, weil zu klein. Mit Schlauchschellen und brachialer Gewalt wird alles zusammengehalten. Immer wieder tritt hier Wasser aus. Ein Tag Arbeit und das richtige Material wären hier notwendig. Das werde ich bei Gelegenheit lösen, nicht jetzt, wir wollen los. Der Tag geht gut los und wird so weiter gehen.

Ich rufe den Hafenmeister in Bortfeld an, weil wir noch den Schlüssel zur Steganlage haben und nicht wissen wohin damit. Die Stimmung des Hafenmeisters heute ist, gelinde gesagt, unsozial: Ich habe Ihnen doch erklärt… würden Sie nun bitte zum Briefkasten am Hafengebäude… dort den Schlüssel einfach reinlegen… das kann doch nicht so schwer sein… Ich erinnere mich nicht an eine derartige Erklärung. Was soll’s. Ich traue mich kaum zu fragen, ob er uns bitte die Brücke an der Hafeneinfahrt öffnen möge. Er bafft zurück, „ich sehe Sie dann schon und mache auf!“, und hängt ein.
Es kommt sehr frischer Wind auf kurz vor und während des Ablegemanövers. Der Wind drückt uns in der engen Steganlage in Richtung der anderen Boote. Die AWOL ist ohnehin schon fünf Meter länger als die anderen Boote und eigentlich deutlich zu groß für den Hafen. Unter heftigem Seitenstrahlereinsatz und mit ordentlich Schub kommen wir knapp raus.

Bei heftigem Wind warten wir 100 Meter vor der Brücke, und die will nicht öffnen. Ich denke, es liegt daran, dass die auf der Brücke stehenden Angler dort nicht weggehen. Wir haben kaum noch Saft auf den Seitenstrahlern, dümpeln rum und warten. Ich fange nun an, mich zu ärgern. Ich rufe den Anglern zu, sie sollen die Brücke verlassen. Aus seinem Garten vom Ufer schreit ein Anwohner: „Ey du Heiopei, fahr näher ran“. Wir können aber nicht näher ran, weil wir dann in einer schmalen Durchfahrt stehen müssten und der Wind uns ans Ufer drücken würde. Ich brülle also zurück, er solle ruhig sein, bayerische Schimpfwörter fliegen hinterher.
Ich bin gerade in Stimmung, rufe nochmal den Hafenmeister an und sage ihm, er solle jetzt sofort die Brücke aufmachen. Seine Stimmung wird dadurch nicht besser. Er erklärt aber, dass die Brücke nach relativ kurzer Zeit automatisch wieder zugeht, worauf er keinen Einfluss hat – weswegen er mit dem Öffnen normalerweise wartet, bis die Boote direkt davor stehen. Ein Dilemma. Wir bemühen uns, die Brücke trotz des Seitenwinds zügig zu passieren, und verlassen die Marina Richtung Wolfsburg.
Bei Kilometer 220 passieren wir den Hafen Braunschweig. Leider bietet sich hier kein Besuch der Stadt an, weil der Hafen zu weit im Norden liegt.




Wir fahren auf dem Mittellandkanal auf die Schleuse Sülfeld, eine 223 Meter lange Großschifffahrtsschleuse, zu. Wir sehen aus der Ferne gerade Schiffe einfahren und funken den Schleusenwärter an. Er meint, er würde auf uns warten, wir sollten uns aber beeilen. Alle in der Schleuse befindlichen Schiffe warten also brav auf uns. Wir fahren ein und machen fest. Die Schleusung beginnt.
Beinahe-Katastrophe in der Schleuse
In der Schleuse Süllfeld geht es neun Meter nach unten. Es gibt keine Schwimmpoller. Ich muss also mehrere Male die Festmachleine umlegen an den Stahlpollern, welche im Abstand von etwa eineinhalb Metern in die Schleusenwand eingebaut sind. Ich habe hier eine spezielle Technik entwickelt, um unsere 22 Tonnen mit einer einzigen Leine zu halten. Warum das heute so schief läuft, kann ich nicht echt erklären. Es war wohl Unachtsamkeit. Jedenfalls hat sich die Leine verhakt und will plötzlich nicht mehr gleiten.


Die Leine hat sich in der Klampe festgefressen. Ich bekomme sie nicht mehr frei. Die Schleuse wird trotzdem weiter geleert und der Wasserspiegel sinkt, während unser Boot beginnt, sich zu neigen. Steuerbord hängen wir fest an einer Stahlklampe an der Wand und backbord sinken wir ab. Es knarzt und kracht. Barbara funkt panisch den Schleusenwärter an: „Wir hängen fest, bitte stoppen!“ Ich renne nach unten in die Küche, um ein Messer zu holen. Ich will die Festmachleine abschneiden.


Das Boot hängt zwischenzeitlich so schräg an der Wand, dass die Schubladen und Schranktüren aufgehen und das Zeug rausfliegt. Weinflaschen rollen durch die Küche. Hunde rollen durch den Salon. Die Trinknäpfe der Hunde entleeren sich. Sogar die Restwasserschale der Kaffeemaschine läuft aus. Der erste Fender platzt, weil die 22 Tonnen der AWOL gegen die Schleusenwand pressen. Endlich wird die Schleusung gestoppt. Der Schleusenwärter hat uns erhört.
Ich komme mit Messer zurück an Deck. Plötzlich knallt es und das Schiff schwingt stark nach steuerbord aus. Weiteres Klirren und Geschepper unter Deck. Ich schaue nicht mehr nach. Die Hunde kauern sich in einer Ecke zusammen. Die Festmachleine, immerhin 2 Zentimeter dick, ist gerissen. Wir sind wieder frei. Auf den anderen Booten glotzen alle in unsere Richtung. Der Holländer auf der apricot-metallic-farbenen Yacht vor uns schüttelt missbilligend den Kopf. Das finden wir doof. Nach einigen Schrecksekunden funkt Barbara den Schleusenwärter an und teilt ihm mit, dass alles wieder in Ordnung sei. Mit süffisantem Unterton fragt er noch eher rhetorisch: „Dann darf ich die Schleusung jetzt fortsetzen, ja?!“ Er muss uns für die absoluten Vollidioten halten. In der ersten Bootsfahrstunde lernt man, auf keinen Fall die Leinen festzubinden, wenn man herabschleust.

Als das Schleusentor offen und das Signal bereits auf grün ist, erinnert der Schleusenwärter über Funk noch beiläufig daran, dass die Durchfahrtshöhe in dieser Kammer bei lediglich vier Metern liegt. Wir haben aber noch den Geräteträger oben, also 4,70 Meter. Wieder Hektik an Deck, während Barbara das Boot in der Schleusenkammer auf Position hält. Erst muss das Bimini-Top, also unser Sonnenschutzsegel, abgebaut werden, sonst lässt sich der Mast nicht senken. Auch der Grill muss weg, aber der ist an der Reling festgekettet – wo ist der verdammte Schlüssel für das Schloss?! Nur gut, dass wir das hinterste Boot in der Schleuse sind! Wir senken schließlich den Mast so weit ab, dass wir die vier Meter nicht überschreiten, und ich stehe da und halte den Mast auf Position.
Bei der Ausfahrt aus der Schleuse dreht der Holländer vor uns sein Schiff plötzlich im rechten Winkel gegen die Schleusenwand und kracht rein. Das sieht fast absichtlich aus. Wahrscheinlich hat ihn ein Strudel des Frachtschiffes vor ihm erwischt. Er schaut zu uns nach hinten, und wir schütteln missbilligend den Kopf.

Jetzt, wo das Adrenalin langsam nachlässt, spüre ich es. Ich scheine mich irgendwie verhoben zu haben. Wieder der Lendenwirbel. Das hat mich in Rotterdam schon mal fast zwei Wochen lahmgelegt.
Wolfsburg
Eine Dreiviertelstunde später passieren wir VW Werke, Autostadt, VfL Stadion – alles am Kanal gelegen – und laufen bei Kilometer 247 im Yachthafen des 1. MC Wolfsburg ein. Schlau wie wir sind, haben wir vorab reserviert. Gleich links bei der Einfahrt in den Hafen an der Mauer sollen wir uns hinlegen, wurde mir telefonisch gesagt. Leider liegen da schon welche, zwar nicht reserviert, aber die Boote abgestellt und gegangen. Die AWOL ist wieder mal ein wenig länger als alle anderen Boote im Hafen. Der Hafen ist winzig. Alle kriechen aus ihren Booten und schauen, was wir machen. Uns wird zugerufen, am Ende des Hafenbeckens sei Platz für uns.


Wir schlängeln uns durch das enge Becken bis ans Ende. Dank Barbaras Fahrkünsten kommen wir auch tatsächlich an geeigneter Stelle zum Liegen. Viele helfende Hände nehmen Taue entgegen und ziehen am Schiff. Die Hafengemeinde ist voll des Lobes für Barbaras fahrerisches Können. Man hört: „Ich fahre mein Boot nur, wenn kein anderes Boot in Sicht ist, das würd ich mich nicht trauen“, „Toll hat sie das gemacht“ usw.
Der Hafen ist gut, aber deutlich zu klein und dauerhaft voll. Ständig fahren Boote rein und rückwärts wieder raus. Ein ganz amüsantes Schauspiel, wenn nicht der ständige Lärm der Seitenstrahler wäre. Gleich hinter dem Hafen gelangt man durch ein Wäldchen zum Allersee, samt Sandstrand. Gefällt uns allen fünf sehr gut. Wir bleiben drei Nächte.

In Wolfsburg ist die Autostadt einen Besuch wert – ab 16 Uhr halber Preis. Das Eintrittsgeld steht zugleich als Verzehrgutschein zur Verfügung, etwa für eine original Volkswagen Currywurst. Ich investiere lieber in einen badischen Weißweincuvée „Edition Autostadt“.





Barbara hält immer ein Auge auf die gegenüberliegende Geschäftsstelle des VfL Wolfsburg, ob der gerüchteweise als Transferziel genannte Maximilian Philipp vielleicht zur Vertragsunterzeichnung auftaucht (tut er nicht). Wie Frauen halt so sind, zieht sie dem Besuch der Autostadt einen Besuch der Fußballwelt vor. Begeistert ist sie davon nicht.

Die Stadt als solche kann man sich getrost sparen. Sie wurde erst 1938 als Wohnstadt für die VW-Mitarbeiter gegründet. Außer den recht ansehnlichen und gut erhaltenen Mietskasernen aus den Vierzigern ist da nicht viel. Das von Zaha Hadid entworfene phæno Science Center ist allerdings architektonisch unbedingt sehenswert. Für einen Besuch des Museums selber bleibt uns leider keine Zeit, es soll aber toll sein.



Trotz der vielen Aufregung und prekären Situationen doch noch, oder wieder, entspannt? Bei eurem Aufhängen in der Schleuse hatte ich grad selber Herzklopfen, das ist einer der worst case – Situationen! Scheint allgemein in Deutschland nicht gerade einfach zu sein mit Anlegemöglichkeiten; wir sind 15 x 4.5 Meter und 30 Tonnen, da hätten wir wohl auch ziemliche Probleme?!
Wir wünschen eine bedeutend ruhigere Weiterfahrt, liebe Grüsse
Alles wieder gut, wir sind inzwischen hart im Nehmen. 😀 Die Maße sind nicht überall in D ein Problem, bloß dieses Revier hier ist eher auf kleinere Boote ausgelegt. Wenn man gut plant (und vorausbucht), funktioniert es aber auch mit so Dickschiffen wie den unseren. 😉 Und es ist die Mühe wert, die Gegend um Berlin ist traumhaft!